Michi
San Pedro de Atacama 3
Meinen ersten freien Tag verbringe ich gerade in Calama, die laut dem Gino, einem italienischen, schon in die Jahre gekommenen Tour Guide und somit Kollegen von mir, der schon die ganze Welt bereist hat – beispielsweise ist er mit dem Moped durch Afghanistan und Pakistan gefahren -, hässlichste Stadt der Welt. Wenn er das sagt, stimmt das auch. Deshalb verliere ich darüber auch gar keine Worte…
Ab und zu langweile ich mich in San Pedro, denn ich muss viel im Büro arbeiten – eigentlich verabscheue ich Büroarbeit, deswegen frage ich mich, warum ich doch immer wieder im Büro sitze. Das wird sich in Zukunft ändern. Doch hin und wieder erlebe ich auch etwas. Ich habe schon so gut wie jede Tour mindestens einmal mitgemacht. Salar de Tara, Salar de Atacama, Laguna Miscanti, Laguna Miñiques, Valle de la Luna, Valle de la Muerte, Geyser del Tatio. Auf gut Deutsch: Vulkane, Lagunen, Salzseen, Geysire, endlose Weite so weit das Auge reicht, Flamingos, Lamas, Vicuñas, …

Valle de la Luna
So wie es ausschaut, habe ich morgen die Möglichkeit, meinen ersten 5000er zusammen mit zwei Burschen aus Traunstein zu besteigen, nämlich den Cerro Sairecabur (5.970 m). Hoffentlich klappt es! Ich freue mich schon wie ein Schnitzel darauf! Dann wäre ich meinem Kindheitstraum, den Mount Everest zu besteigen, nur noch knapp 2.900 Meter entfernt. In Bolivien möchte ich dann die 6.000 Meter knacken!
Von einem Erlebnis muss ich abschließend noch berichten: Am vergangenen Donnerstag hatte ich zum ersten Mal seit meiner Abreise die Möglichkeit, endlich wieder Gitarre zu spielen. Zwar fehlte die d-Saite, doch habe ich es mir nicht nehmen lassen, vor sieben angeheiterten Chilenen meinen “Mann von 20 Jahren” und Hans Söllners “Marihuanabam” zu spielen. Grossartig! Dieser Abend war wirklich eine interessante Erfahrung für mich – erleben zu können, wie junge Chilenen leben, feiern, denken, fühlen, teilen, … Ein sich nach etwas Liebe sehnender Straßenköter ist uns durch ganz San Pedro bis ins Zimmer vom Emilio, dem Gastgeber der kleinen Privatparty, gefolgt. Und keinen hat es gestört. Das wäre bei uns undenkbar. Ich dachte mir, meine erste Bleibe wäre heruntergekommen gewesen. Ich alter Kapitalist. So wie der Emilio und Co. leben ist eigentlich schon krass. In einem relativ großen Zimmer befindet sich eine dreckige, alte Matratze mit einer noch dreckigeren Decke zum Schlafen, man findet kein Kissen, keinerlei Dekoration, keinen PC, keine CDs, keine Bücher, keinen Schrank, keinen Tisch und fast keine Kleidung. Lediglich eine alte, kaputte Gitarre und ein altes Saxofon, ein paar schmutzige, über den Boden verstreute Kleidungsstücke sowie das ein oder andere Wattestäbchen. Mit anderen Worten: Man findet in dem Zimmer so gut wie keinen Besitz – materiell zumindest. Ein alter Autoreifen dient als Sitzgelegenheit, der Rest hat es sich auf dem kahlen Boden gemütlich gemacht. Für mich ein bisschen gewöhnungsbedürftig, aber echt stark, wie nett und ganz selbstverständlich sie mich aufgenommen haben – mich den Gringo. Ich hätte es auch nie für möglich gehalten, dass es einen Chilenen gibt, der ernsthaft Hölderlin, geschweige denn Hesse, Goethe, Rimbaud, Baudelaire oder Dostojewskij liest. Mir scheint es, als wären die meisten Chilenen künstlerisch begabt. Der eine spielt super Gitarre und singt dazu, der andere schreibt Gedichte, der nächste malt und zeichnet. Zudem singt der chilenische Durchschnittssänger meiner Meinung nach besser als der deutsche Durchschnittssänger.
Zum einen ist es unheimlich stark, dass ich mit diesen Leuten am Ende der Welt im Prinzip genau das Gleiche machen kann wie mit meinen Freunden daheim, dass “sie” genau so ticken wie “wir”, zum anderen fragt man sich aber auch, was man hier in dieser heruntergekommenen Bude am Arsch der Welt mit all diesen Leuten, die man nur bedingt versteht, sucht. Gibt es hier etwas, was es bei uns daheim nicht (mehr) gibt? Ich weiß es nicht. Vielleicht finde ich es heraus. Ich finde es positiv. So etwas nenne ich “Globalisierung hautnah”.