Michi
Porto Alegre
An meinen letzten Tagen in Brasilien war ich überall und nirgendwo. Geplant war eigentlich, ein paar Tage im Parque Nacional de Aparados da Serra und im Parque Nacional Serra Geral zu verbringen, in denen sich riesige Schluchten befinden. Dort wollte ich wandern, Gumpen springen und einfach weit weg vom Menschen sein. Leider wurde nichts daraus, denn dort erst einmal hinzukommen erwies sich wie so oft bei eher unbekannteren Nationalparks als logistisches Problem. Ich bin kreuz und quer durch die Serra Gaúcho – eine hügelige Landschaft, die ein wenig an die Bayerischen Voralpen erinnert – gekurvt. Mein Versuch, von São Francisco de Paula ins über 60 km entfernt gelegene Cambará do Sul zu trampen, scheiterte kläglich und irgendwann hatte ich einfach keine Lust mehr. Mein einziger Trost: Die Gegend war landschaftlich wirklich sehr schön. Aus diesem Grund ging es schon zwei Tage früher nach Porto Alegre.
Mein zu sehr von Wohlstand geprägtes Bild Brasiliens wurde von Porto Alegre wieder zu Recht gerückt und ich wurde definitiv eines Besseren belehrt. Kam ich mir in Canela, einer deutsch angehauchten Kleinstadt in der Serra Gaúcho, die wahrscheinlich genauso viel Lebensqualität zu bieten hat wie beispielsweise Rottach-Egern, selber noch als Penner vor mit meinem Rucksack, der all mein derzeitiges Hab und Gut beherbergt, so hat sich das Blatt in Porto Alegre wieder sichtlich gewandelt. Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich so viele Obdachlose auf den Straßen herumflacken sehen wie in Porto Alegre, noch nie zuvor in meinem Leben habe ich so viele “Müllmänner” arbeiten sehen. Mit Müllmännern meine ich nicht Müllmänner im üblichen Sinn, sondern Männer – darunter auch viele Jungs – die Müll von den Straßen einsammeln und Müllsäcke durchwühlen, um mit dem Verkauf von Aluminium, Kartonagen und dergleichen ein paar Reais zu verdienen, um wenigstens überleben zu können. Wer jetzt denkt, in Porto Alegre findet man deshalb keinen Müll mehr auf der Straße, der täuscht sich gewaltig. Ich finde es allerdings beachtenswert, dass diese Menschen trotz der harten Umstände einer “anständigen” Beschäftigung nachgehen und nicht soweit sinken, in die Illegalität abzudriften. Ich könnte es ehrlich gesagt verstehen, wenn sie es täten.
Auf der Suche nach einer billigen Unterkunft bin ich einem Mann oder besser gesagt einem einzigen Stück Elend, dessen verkrüppelte Gliedmassen in sämtliche Himmelsrichtungen zeigten – nur nicht dahin, wohin sie eigentlich zeigen sollten -, über den Weg gelaufen – auf einer Betonbrücke bei über 35 Grad im Schatten, während unter uns PKWs, LKWs und Busse auf der dreispurigen Autobahn durchdonnerten. Mit einem Fuß hielt er einen winzig kleinen Sonnenschirm, um sich vor der stechenden Sonne zu schützen. Natürlich habe ich ihm ein paar Reais gegeben, allerdings weiß ich nicht, wie er von der Brücke herunterkommen soll, um sich von dem Geld etwas zu kaufen. Das wird mir wohl ein Rätsel bleiben.
Der allererste Schritt, meiner Meinung nach, eine bessere, gerechtere Welt zu schaffen, ist, sich überhaupt erst einmal zu trauen, dem Elend, der Realität, ins Auge zu blicken und nicht wegzuschauen, die Probleme an sich heranzulassen. Das mag am Anfang vielleicht noch sehr schwer fallen – immer bringe ich dazu auch nicht den erforderlichen Mut auf -, dennoch besteht zwischen “das Elend an sich heranzulassen” und “das Elend auf sich nehmen zu müssen” immer noch ein Unterschied zwischen Tag und Nacht! Das vollkommene Paradies auf Erden, wo es wirklich jedem Menschen gut geht, wird es sicherlich nie geben, damit habe ich mich schon seit längerer Zeit abgefunden und das wird auch kein Mensch ändern können – kein Che Guevara, kein Dalai Lama, kein Mahatma Gandhi, kein Martin Luther King, kein Adolf Hitler, kein Mao Zedong, kein Georg W. Bush, keine Angela Merkel, kein Jesus Christus… Auch ich nicht. Und du auch nicht. Davon kann man höchstens in der Wildnis von Alaska träumen. Du wirst die Welt nicht großartig ändern können – sie ist so, wie sie ist. Was du aber machen kannst, ist, wenigstens einen klitzekleinen Teil dazu beizutragen, die Welt ein wenig positiver zu gestalten oder zumindest, einer positiven Entwicklung nicht im Wege zu stehen. Ein Mensch kann nicht alles machen, aber ETWAS! Was ich für mich Positives mitnehmen kann beim Anblick solch armer Menschen, ist, dass ich mir ständig auf’s Neue bewusst werde, wie gut es mir doch eigentlich geht, welch privilegiertes Leben ich führen darf, dass wir wie Gott in Frankreich leben. Und dieses privilegierte Leben möchte ich nutzen, um daraus etwas zu machen und es nicht zu verschwenden. Ich möchte mein Leben ganz bewusst leben, aber auch etwas von meinem Kuchen abgeben.
Ich war schockiert, mit ansehen zu müssen, welch großer Unterschied doch zwischen Arm und Reich herrscht – und das nach nur gut zwei Stunden Busfahrt. Vom Himmel direkt in die Hölle. Doch das ist nicht nur in Brasilien der Fall, das ist leider auf der ganzen Welt so. Das ist die traurige Realität! Dementsprechend ist es mir nicht sehr schwer gefallen, Servus zu Porto Alegre zu sagen. Dennoch hatte ich eine tolle Zeit in dem Land, in dem scheinbar das meist gefahrene Auto immer noch der alte VW T2 ist – in weiß versteht sich.