Michi
La Paz 1
Von La Paz habe ich viel erwartet und im Grunde haelt die Stadt, eine der am schlimmsten verschmutzten Staedte weltweit, auch, was sie verspricht. Allerdings habe ich mich mit eher gemischten Gefuehlen auf den Weg von Sucre nach La Paz gemacht, denn Staedte, vor allem Grossstaedte, haben immer auch ihre Schattenseiten. Mein Reisefuehrer prophezeit einem nur das Schlechteste: Verkleidete Polizisten, die einem das Geld aus den Taschen ziehen, Leute, die einem Drogen verkaufen und anschliessend an die Bullen verpfeiffen, falsche Taxifahrer, die einen mit ihren falschen Taxis entfuehren und ausrauben, … Es waere also besser, hier niemandem zu vertrauen, niemandem zu glauben. Und genau in dieser Stadt spricht mich ein Mann an, der sich als Migel vorstellt, und mich schliesslich um Hilfe bittet: seine Mutter laege im Krankenhaus und haette sehr viel Blut verloren, weshalb sie natuerlich Blut benoetige, allerdings kostet Blut Geld – eine Packung Blut kostet laut ihm 180 Bolivianos, umgerechnet 18 Euro -, Geld, das er jedoch nicht hat. Seine Mutter benoetige insgesamt vier Packungen. Er bittet mich nun also um Geld. Wenn ich will, koennte ich seine Mutter auch sehen, allerdings ist das Krankenhaus nicht in der Naehe, man muesse mit dem Bus dorthin fahren. Vor mir sitzt ein Mann, den ich nicht kenne, den Traenen nahe, und seine Mutter liegt im Sterben. Was soll man in solch einer Situation machen? Was ist richtig, was ist falsch? Ich bin kein Arschloch! Und ich habe ein weiches Herz! Vielleicht zu weich! Ich habe ihm letztendlich etwa 17 Bolivianos – zu dem Zeitpunkt alles, was ich hatte – gegeben. Und ich sollte ihn heute um elf Uhr nochmals treffen. Doch ich habe mich dagegen entschieden! Treibt er das Geld nicht auf, wird seine Mutter sterben! Bin ich nun Schuld, wenn seine Mutter stirbt? Wegen etwa 80 fehlenden Euronen! Ich hoffe, er ist ein Luegner und kauft sich von meinem Geld kein Blut fuer seine im Sterben liegende Mutter, sondern ein Bier fuer sein verlogenes Maul! Sollte er allerdings die Wahrheit gesagt haben, was er bei Gott und bei seinem Herzen geschworen hatte, dann waeren all die schlechten Menschen da draussen, die mit der Gutmuetigkeit der Menschen spielen und somit dafuer sorgen, dass die Menschen auch noch ihren letzten Funken Waerme in ihren Herzen verlieren und immer kaelter und egoistischer werden, mindestens genauso mitschuldig an ihrem Tod wie ich es bin.
Eigentlich wollte ich mit dem Joost gestern das Nachtleben von La Paz auskosten, doch nach diesem Gespraech habe ich zumindest fuer den gestrigen Abend etwas von meiner ausgelassenen Froehlichkeit verloren. Nach lediglich zwei Dosen Bier und einer halben Flasche Wein musste ich kapitulieren und mich dem Schlaf ueberlassen.