Michi
Cajón del Maipo
Am Samstag Abend habe ich die letzten drei Kapitel von Hermann Hesses “Narziss und Goldmund” gelesen, aber nicht irgendwo, sondern in meinem Zelt auf 2.200 Metern Höhe.
Ich konnte am Wochenende nämlich erneut dem Großstadtdschungel entkommen und bin nach Baños Morales im Cajón del Maipo, einem sehr langen Andental nahe der argentinischen Grenze, gefahren. Von dort aus bin ich am Samstag mit meinem für die nächsten neun Monate besten Freund, meinem Rucksack, einem Kilogramm Reis sowie 800 Gramm Nudeln, meiner Mundharmonika und lediglich mit einer Kamera bewaffnet Richtung Glaciar San Fransisco und El Morado, einem markanten 5000er, gewandert. Vor dem Glaciar San Fransisco auf einer Höhe von 2.300 Metern war für mich allerdings Zeit zum Umkehren, denn das Besteigen des El Morado im Alleingang mit meiner nicht vorhandenen Ausrüstung wäre einem Suizidversuch gleichgekommen. Die Nacht habe ich im Monumento Natural El Morado bei milden 5 ºC Außentemperatur verbracht, wobei sich mein neues Zelt als überaus brauchbar erwies. In meinem Schlafsack war es kuschelig warm.

Sternenklare Nacht in den chilenischen Anden
Weit und breit befand sich keine Menschenseele, kein Großstadtlärm war zu hören, kein Stau, kein Gehupe, es gab kein Verbrechen, keine Gewalt, keine Armut und keine Ungerechtigkeit in dieser Nacht. Nichts, absolut gar nichts erinnerte an die Zivilisation – an die Blödheit des bösen Menschen. Lediglich das Rauschen des Schmelzwassers und ab und an das Pfeifen des Windes, der meinem Zelt einen Hauch von Leben verlieh, waren zu hören. Diese Ruhe tat mir unglaublich gut – nach einer relativ stressigen Woche in dieser riesigen Stadt, in der mir fünf bis sechs Millionen Menschen zu viel leben, in der man Stunden nur damit beschäftigt ist, von A nach B zu kommen. Das Großstadtleben ist nichts für mich, das habe ich in den zwei Wochen schon gelernt. Dagegen erschien mir die Gegend um das kleine, idyllische Bergdörfchen Baños Morales wie ein Zuchfluchtsort für all die gestressten Seelen Santiagos. Das Leben in und mit der Natur mag vielleicht nicht so bequem sein wie in der Stadt, dafür ist es intensiver, ehrlicher und näher am eigentlichen Leben orientiert. Ich konnte die Sonne untergehen sehen – der Sternenhimmel war nicht von dieser Welt – und ich konnte die Sonne aufgehen sehen. Lieber habe ich Dreck unter den Fingernägeln als Dreck in der Lunge.
Am Sonntag bin ich wieder ins Dorf abgestiegen und habe zu Mittag meine obligatorischen Empanadas gegessen, um gestärkt zu sein für den Fußmarsch weiter talein- und aufwärts. So wanderte ich Kilometer für Kilometer dahin, ich lief lediglich einheimischen, äußerst freundlichen Bauern, Ziegen oder Pferden über den Weg. Vor mir blickten die beiden Vulkane San José (5.856 m) und Marmolejo (6.109 m) Respekt einflößend herab, während ein paar Bergziegen neugierig vor meiner Kamera posierten.

Neugierige Bergziegen
Die Anden sind gewaltig! Beim Wandern zwischen all diesen 4, 5 und 6.000 Meter hohen Bergen merkt man erst wie klein, verletzlich und unbedeutend der Mensch eigentlich ist. Vielleicht ist das Bergsteigen unterbewusst ein Versuch dem Menschen mit beinahe unmenschlich erscheinenden, am Rande des Menschenmöglichen sportlichen Leistungen ein bisschen mehr Bedeutung zu verleihen. Jedenfalls scheinen die Einheimischen recht gläubig zu sein. Kein Wunder bei der Schönheit der Natur! Solch majestätische Schönheit kann nicht durch zufällige Anordnung irgendwelcher Atome entstehen. Da muss sich schon irgendwer etwas dabei gedacht haben!
Ich habe an diesen beiden Tagen bestimmt über 30 Kilometer zu Fuß zurückgelegt und freue mich schon auf die vielen weiteren, die in den nächsten Monaten folgen werden. Im Moment sitze ich allerdings wieder im Großstadtdschungel fest. Hätte ich wenigstens eine Machete!
“Narziss und Goldmund” von Hermann Hesse ist übrigens mehr als zu empfehlen!